Lange dachte ich, dass „coole Professionalität“ ein Phänomen der Business Welt ist. Ein hilfloser Versuch über den Dingen (und den Menschen) zu stehen und Kontrolle in einem vermeintlich sachlichen Umfeld zu behalten.
Durch meine Tätigkeit in der ambulanten Kinder und Familienhilfe lerne ich gerade, dass es gefühlt immer mehr jungen Menschen, Kindern und Jugendlichen genauso geht- negative Gefühle sind einfach nicht mehr „auf dem Schirm“ und sollen am besten gar nicht erst da sein.
„Ich will das nicht fühlen. Wie kann ich das stoppen?"
Es war eine junge Frau, die mir diesen Satz neulich sagte, während sie verzweifelt versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. In einer Situation, in der Traurigkeit durchaus eine kompetente Reaktion war, erlebte sie ihre Tränen und das damit verbundene ängstliche Gefühl als Schwäche und Gefahr. Es brauchte Zeit und Raum, damit ihre Angst und Traurigkeit einfach da sein durften, bevor wir überhaupt darüber sprechen konnten.
Wir alle haben gelernt, bestimmte Gefühle schnell zu unterdrücken oder zu kontrollieren: Traurigkeit, Wut, Angst. Sie gelten als unproduktiv, unprofessionell oder sogar als Schwäche. Ob im Job, in der Schule oder zu Hause – wir möchten nicht, dass sie uns und unser „Funktionieren“ stören. Das passiert häufig unterbewusst und dadurch von uns unbemerkt. Aber was passiert eigentlich, wenn du so tust, als wären diese Gefühle nicht da?
Du siehst Emotionen oft als feste, vorprogrammierte Reaktionen, die einfach über dich hereinbrechen. Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett hat in ihrer Forschung jedoch gezeigt, dass das nicht stimmt. Gefühle sind keine automatischen Abläufe. Sie sind vielmehr eine aktive Konstruktion deines Gehirns.
Stell dir vor, dein Gehirn ist ein genialer Detektiv. Es empfängt Signale aus deinem Körper – zum Beispiel ein schnellerer Herzschlag, Enge in der Brust oder ein Kloß im Hals. Es vergleicht diese Signale mit früheren Erfahrungen und der aktuellen Situation. Auf dieser Basis entscheidet es: Das fühlt sich nach „Angst“ an. Oder nach „Traurigkeit“. Oder nach „Wut“.
Diese Interpretation, die deinem Gefühl einen Namen gibt, ist also kein objektiver Fakt, sondern das Ergebnis eines schnellen Interpretationsprozesses. Dieser Prozess ist stark davon beeinflusst, wie du in deiner Kindheit gelernt hast, Körperempfindungen zu deuten.
Wenn du das verstehst, wird klar, dass du deine Emotionen nicht einfach passiv ertragen musst. Du kannst lernen, wie du mit ihnen umgehst. Und der erste Schritt ist, sie nicht wegzudrücken, sondern ihnen zuzuhören.
Anstatt dir zu sagen: „Ich sollte das nicht fühlen“, kannst du dich fragen: „Was möchte mir dieses Gefühl sagen?“ Es geht nicht darum, in den Gefühlen zu versinken, sondern eine gesunde Distanz zu schaffen, um zu beobachten.
Da ist ein Kloß im Hals, der dich zum Weinen bringen will. Vielleicht, was sich etwas lösen möchte.
Da ist eine innere Unruhe, die dich antreibt, schnell zu reden. Vielleicht, weil du etwas bestimmtes ausdrücken willst.
Da ist ein Drang, dich zurückzuziehen, der dich überfordert. Vielleicht, um dich in Ruhe und Sicherheit zu bringen.
In unserer Leistungsgesellschaft ist oft kein Platz für dieses Innehalten. Viele Erwachsene haben nie gelernt, sich selbst in emotional herausfordernden Momenten zu begleiten. Wir reißen uns zusammen und machen weiter, und das halten wir dann oft auch bei anderen besser aus als bei uns selbst.
Dieses Muster spiegelt sich überall wider, auch in der Erziehung: Wir sagen unseren Kindern und Jugendlichen, dass sie alle Gefühle haben dürfen. Gleichzeitig spüren sie aber, beobachten bei uns, dass Tränen, Wutausbrüche oder Ängste im Alltag oft nicht wirklich willkommen sind.
Was passiert? Wir leben vor, dass Emotionen zwar theoretisch erlaubt sind, die Praxis aber etwas anderes zeigt: Man reißt sich besser zusammen. So geben wir unbewusst weiter, was wir selbst gelernt haben – und die Spirale dreht sich weiter.
Wir können diese Kette nur durchbrechen, wenn wir anfangen, es anders vorzuleben. Wir brauchen Räume – in Teams, in Organisationen, in unseren Familien – in denen Gefühle einfach sein dürfen. Nicht, um sie zu analysieren oder zu bewerten, sondern um sie zu fühlen und zu verstehen.
Du hast vielleicht auch schon gemerkt, dass es in deinem Umfeld an solchen sicheren Räumen fehlt. Denn sie sind nicht einfach da. Wir dürfen sie gemeinsam kreieren. Wir dürfen anfangen sie gemeinsam zu leben.
Was bedeutet das für dich und dein Umfeld? Wo beginnst du, mehr Raum für Gefühle zu schaffen? Vielleicht in einem Teammeeting, wenn du Unsicherheit ehrlich benennst. Oder zu Hause, indem du Tränen einfach zulässt, ohne sie sofort wegzumachen.
Ich lade dich herzlich ein, deine Gedanken dazu zu teilen. Was sind deine Erfahrungen? Wo siehst du die größte Herausforderung und wo siehst du die Chance, wenn wir als Gesellschaft lernen, wieder mehr mit unseren Gefühlen in Verbindung zu treten?
Schreib mir gerne an hello@heartofleading.com oder unter 017622291568. Ich freue mich auf unseren Austausch.
Und wenn du oder ihr Hilfe braucht beim Kreieren von sicheren Räumen- ob in eurer Organisation oder im System Familie- stehe ich euch liebend gerne zur Seite.
Wenn du mehr über die Arbeit von Lisa Feldman Barrett erfahren möchtest, empfehle ich dir ihre Bücher "Wie Gefühle entstehen: Eine neue Sicht auf unsere Emotionen" (Originaltitel: How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain) und "Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn" (Originaltitel: Seven and a Half Lessons About the Brain) oder ihren TED Talk "Sie sind Ihren Gefühlen nicht ausgeliefert — Ihr Gehirn erschafft sie".